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Wertewandel

Nach Einschätzung aller Voten zum Thema ist in unserer Gesellschaft ein umgreifender Wertewandel auf allen Ebenen bis hin zu einem Werteverlust feststellbar. Es gibt kaum einen Bereich, der auszunehmen wäre. Eine starke Verunsicherung durchzieht die einzelnen Stellungnahmen. Der Prozeß der Umwertung vieler Werte ist den Votanten schmerzlich bewußt. Die unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten des Menschen in Forschung und Technik verursachen genauso Unbehagen, ja Angst, wie die fortschreitende Technisierung am Arbeitsplatz oder zu Hause bzw. in der Freizeit.

Materialismus und Egoismus nehmen nach Votenlage zu. Die vielen Möglichkeiten und Angebote der Freizeitindustrie machen eine vernünftige Auswahl nahezu unmöglich. Erlebt wird auch, daß im undurchdringlichen Neben- und Ineinander einer pluralen Gesellschaft überschaubare Lebensräume verlorengehen. Die ohnehin vorhandenen Zukunftsängste werden durch den Zusammenbruch des Kommunismus mit seinen Auswirkungen auch auf unsere Gesellschaft sowie das Wiedererwachen von Nationalismus und Fremdenhaß verstärkt. Die Masse an Informationen bewirkt eine starke Reizüberflutung, die es schwermacht, einen eigenen Standpunkt zu finden.
Menschen suchen nach Sinn für ihr Leben. Diese Suche bleibt oft diffus, verfehlt ihr Ziel. Sorgen bereiten auf dem Markt der Sinnsuche die vielen Sekten und esoterischen Angebote.
Die Sinnkrise zeigt sich auch im Umgang mit alten, kranken, behinderten und sterbenden Menschen, die vielfach ausgegrenzt werden.
Institutionen, die verbindliche Normen aufzeigen, haben keine Konjunktur. Die Kirche, die hier eine große Aufgabe erfüllen könnte, sieht sich selbst einem massiven Wertewandel ausgesetzt, auf den sie nach Ansicht der Votanten nicht angemessen reagiert. Folgende Bereiche werden mehrfach und ausdrücklich genannt: Sexualität, Lebensformen, Ehe, Scheidung, kirchliches Amt, Hierarchie, Autorität (s. dazu Kapitel 10: ''Verfaßtheit der Kirche'' und Kapitel 11: ''Glaubwürdigkeit'').
Doch der Wertewandel wird nicht nur negativ gezeichnet, auch auf eine Reihe positiver Entwicklungen wird hingewiesen, z.B. Demokratisierung, größere Freiräume für den einzelnen, die Möglichkeit, gesellschaftliche und kirchliche Tendenzen und Normen kritisch zu hinterfragen, das Eintreten vieler für gerechtere Strukturen in Politik und Kirche, für die Bewahrung der Schöpfung und für gesellschaftliche Randgruppen. In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, daß christlicher Glaube weniger ein Katechismus-Auswendiglernen, sondern Konsequenz einer reflektierten, persönlichen Entscheidung ist.

Das Leben insgesamt ist zu detailliert technisch, jeder hat immer weniger Gesamteinsicht -immer mehr ist jeder nur Rädchen im Getriebe. (G133-151-0)
Wir befinden uns in einer gesellschaftlichen Situation, die weniger von A-Religiösität, sondern mehr von einer diffusen Sinnsuche gekennzeichnet ist. Die ganz überwiegende Zahl der Menschen, die nach neuen Orientierungen und Begründungen ihrer Existenz suchen, sucht nicht mehr in den christlichen Kirchen. Die christlichen Kirchen stehen auf einem kaum noch zu übersehenden Markt vielfältigster Angebote in einer Konkurrenzsituation, der sie schon deshalb nicht gewachsen sind, weil sie sich auf diese Situation noch gar nicht eingestellt haben. (SB-112-C)
Allgemein herrscht die Scheu vor Krankheit und die Unfähigkeit, über Krankheit, Behinderung und Tod zu sprechen und damit umzugehen. Angst vor eigener Hilflosigkeit. (G362-856-0)
Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks und dem Beitritt der östlichen Bundesländer zur Bundesrepublick ist die Situation in ganz Europa durch einen besonders aggressiven Fremdenhaß ... geprägt. (SB-112-C)
Positiv in unserer Gesellschaft: die Sorge um die Bewahrung der Schöpfung, die Solidarität mit Randgruppen und Behinderten, der Eintritt für gerechte soziale und politische Strukturen sowohl in unserem Staat als auch in der sogenannten 3. Welt. (D-144)
Es wurde festgestellt, daß allgemeine, demokratische Errungenschaften, wie freie Meinungsäußerung, Aus- und Weiterbildungschancen, Gleichberechtigung der Frauen etc., als positiv erlebt werden. (G143-195-0)
Die pluralistische Gesellschaft bietet die Möglichkeit, das Christsein in Gewissensfreiheit zu praktizieren. (G146-242-0 + G146-243-0)


Als Folgen dieses Wertewandels sehen eine Reihe von Votanten extreme Individualisierung, der sich zeigt in Rückzug ins Private, Vereinsamung, Materialismus, Konsumdenken, Bindungsangst, Gleichgültigkeit gegenüber Normen bzw. von Normen gesellschaftlicher oder religiöser Art. Aber andererseits eröffnet der Wandel auch Freiräume im persönlichen wie gemeinschaftlichen Leben, die es in der Vergangenheit nicht gab.
Die Kirche hat bis in die Gegenwart zu wenig und mit oft unangemessenen Mitteln auf den Wertewandel reagiert. Einerseits hat sie nicht stark genug christliche Werte vertreten, andererseits auf gesellschaftliche Entwicklungen gar nicht oder restriktiv geantwortet. Damit hat sie anderen gesellschaftlichen Strömungen ihr ureigenstes Terrain überlassen. Christliche Glaubensangebote werden nicht zuletzt deswegen immer weniger verstanden oder für die eigene Lebenssituation fruchtbar gemacht. Doch auch die Kirche selbst scheint kein Vertrauen zum Wert der eigenen Botschaft zu haben.

Die Individualisierung des Lebensgefühls, die oft bis zur Vereinzelung führt, das ''Angebotsdenken und -handeln'', die Freizeitmentalität haben unter anderem zur Folge, daß die Menschen sich schwertun, Bindungen einzugehen, sowohl im religiös-kirchlichen Raum als auch im partnerschaftlichen ... (D-144)
Sie (die Kirche) hat sich schon lange der Möglichkeiten begeben, christliche Wertvorstellungen Einfluß gewinnen zu lassen. (VD-010-180)
Wir leben in einer Gesellschaft mit noch nie dagewesener Pluralität. Diese Vielfalt spiegelt sich in unseren Kirchen und Gemeinden aber unzulänglich wieder. (SB-112-C)
Im realexistierenden Wertepluralismus kommt Kirche offenbar nicht mehr als ein ''verständliches'' Werte- und Sinnangebot vor. ... Daß Glauben nicht mehr als sinnvoll ''verstanden'' wird, hängt aber nicht nur mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen, sondern auch mit kirchlichen Nicht-Entwicklungen. (G342-774-0).
Die jetzige Praxis bietet wenig Anreiz, sich mit den kirchlichen Werten und Normen auseinanderzusetzen. Von seiten der katholischen Kirche wird ein vollständiges System vorgegeben, dessen Herleitung und dessen Prinzipien nicht aufgezeigt werden. ... Würde die Kirche mehr auf die Wertigkeit und Wichtigkeit ihres eigenen Entwurfes vertrauen, könnte sie mit großer Offenheit und großem Vertrauen den Menschen begegnen. (VV-005-320)


Die Kirche darf nach Einschätzung der Votanten in dieser Situation des Umbruchs nicht resignieren oder sich auf eine fundamentalistische Position zurückziehen oder gar aus der gesellschaftlichen Diskussion heraushalten. Vielmehr muß sie sich den Problemen stellen, bereit sein, sich mit gesellschaftlichen Strömungen auseinanderzusetzen. Dabei sollte Kirche nicht nur auf ihre Autorität pochen oder nur die negativen Seiten des Wertewandels anprangern, sondern auch die positiven Möglichkeiten sehen und nutzen.
Den immer vielfältiger gewordenen Lebensformen muß die Kirche Rechnung tragen, sie soll integrieren, nicht ausgrenzen. Die Menschen müssen sich in ihrer jeweiligen Lebenssituation angesprochen fühlen, müssen glauben können, daß Kirche ihnen wirklich helfen kann, sie nicht nur reglementiert oder verurteilt. Wenn die Kirche sich den veränderten Bedingungen in den verschiedenen Lebensbereichen stellt, wird sie realistischer und damit glaubwürdiger werden, denn Offenheit in bezug auf Veränderungen zeugt von Gottvertrauen und Wissen um den eigenen Wert, der sich aus dem Evangelium als der Grundlage des christlichen Glaubens herleitet und die Kraft gibt, auf Zukunft hin sinnvoll zu leben.

Es ist in einer pluralistischen Gesellschaft mit mehr als nur einer Werteskala nicht möglich, eine einzige Lösung zu finden, die den Bedürfnissen aller gerecht wird. Die katholische Kirche wird sich dem Wertewandel auch in diesem Punkt stellen müssen. Die Konsequenz wird ein vielfältiges Angebot in der Gemeinde sein müssen. (G342-766-0)
Die Kirche darf sich nicht darauf beschränken, nur auf ihre Autorität zu pochen, sondern muß die christlichen Wertmaßstäbe sinnvoll begründen. (D-114)
Auch von der Kirche müssen veränderte Wertmaßstäbe - auf der Grundlage des Evangeliums - für das menschliche Zusammenleben durch Überprüfung von Lehre und Praxis gefunden werden. Die Kirche muß ihren Gliedern einen Freiheitsraum einräumen, der einen selbstverantworteten Standpunkt ermöglicht. (VV-014-110)
Nur eine überzeugende Lebenspraxis und eine gewinnende Atmosphäre kann neue Begegnungen von Menschen mit Gemeinden ermöglichen. (SB-112-C)
Die Kirche soll die Zeichen der heutigen Zeit, wie Pluralität der Meinungen, Infragestellung tradierter und gültiger Werte, Autoritätswandel, erkennen und, soweit das möglich ist, sie zum Positiven nutzen. (G225-498-0)
Diese Offenheit würde zwar Werte und Normen verändern, jedoch das Wesentliche erhalten. (VV-005-320)
Gelassenheit und Zuversicht sind Eigenschaften, die ''blinden Aktivismus'', gleich welcher Art, bremsen, dafür aber befähigen, Andersdenkende ernstzunehmen und zur Dialogfähigkeit ... zu führen. ... Gottvertrauen, das Gelassenheit bewirkt, kann auf Drohungen und Reglementierung verzichten. Zuversicht hat die Kraft, Hoffnung gegen Leere und Sinnlosigkeit zu setzen. (G143-195-0)